Ich sah Heinrich erst im Sommer wieder, als er Gertrud zu ihrem Vater brachte. Da war er mit ihr und mir zart und behutsam, wie ich ihn nie gesehen hatte, und ich merkte wohl, wie er sie zu verlieren fürchtete, und ich fühlte auch, dass er den Verlust nicht ertragen würde. Sie aber war müde und verlangte nichts als Ruhe und stille Tage, um sich wiederzufinden und wieder Kraft und Gleichmut zu gewinnen. Wir brachten einen lauen Abend bei uns im Garten zu. Da saß Gertrud zwischen meiner Mutter und Brigitte, deren Hand sie hielt, Heinrich ging leise zwischen den Rosen hin und wider, und ich spielte mit Teiser auf der Terrasse eine Geigensonate. Wie da Gertrud stille ruhte und den Frieden der Stunde atmete, und wie Brigitte verehrend sich an die schöne leidende Frau schmiegte, und wie Muoth geneigt mit leisen Schritten draußen im Schatten ging und horchte, das ist mir als ein unverlierbares Bild in der Seele geblieben. Nachher sagte Heinrich leise scherzend, aber mit traurigen Augen zu mir: »Wie die drei Frauen beieinander sitzen! Und glücklich sieht von allen dreien nur deine Mutter aus. Wir wollen sehen, dass wir auch so alt werden.«
Dann reisten wir auseinander, Muoth allein nach Bayreuth, Gertrud mit ihrem Vater in die Berge, die Teisers nach Steiermark und ich mit meiner Mutter wieder dem Meere zu und dachte nicht anders, als ich es vor Jahren in der ersten Jugend getan hatte, mit Verwunderung und Grauen an die traurig närrischen Wirrnisse des Lebens, dass Liebe vergebens sein kann, und dass Menschen, die es gut miteinander meinen, doch einer am andern vorbei ihr Schicksal leben, jeder sein eigenes, unbegreifliches, und wie jeder dem andern helfen und nahe sein möchte und nicht kann, wie in sinnlosen trüben Angstträumen. Und ich dachte oft auch wieder an Muoths Worte über Jugend und Alter und war neugierig, ob auch mir einmal das Leben einfach und klar werden würde. Meine Mutter lächelte dazu, wenn ich im Gespräch daran rührte, und sah wirklich zufrieden aus. Und sie erinnerte mich zu meiner Beschämung an meinen Freund Teiser, der noch nicht alt war und doch alt genug, um seinen Teil erfahren zu haben, und der als ein Kind mit einer Mozartmelodie auf den Lippen unbeschwert dahinlebte. Es lag nicht am Alter, das sah ich wohl, und vielleicht war unser Leid und Nichtwissen doch nur jene Krankheit, von der mir einst Herr Lohe gesprochen hatte. Oder war auch dieser Weise eben ein Kind wie Teiser?
Allein so oder so, mein Denken und Brüten änderte nichts. Wenn mir Musik die Seele bewegte, dann verstand ich ohne Worte doch alles, fühlte in der Tiefe alles Lebens reine Harmonie und glaubte zu wissen, dass ein Sinn und schönes Gesetz in allem Geschehen verborgen sei. Wenn es auch eine Täuschung war, ich lebte doch darin und war darin beglückt.
Vielleicht wäre es besser gewesen, Gertrud hätte sich für den Sommer nicht von ihrem Mann getrennt. Sie begann zwar sich zu erholen und wirklich im Herbst, als ich sie nach der Reise wiedersah, gesünder und widerstandsfähiger aus. Aber die Hoffnungen, die wir auf diese Kräftigung bauten, waren Täuschungen.
Gertrud hatte es nun einige Monate bei ihrem Vater gut gehabt, sie hatte ihrem Bedürfnis nach Ruhe nachgeben können und sich diesem stillen Zustand ohne tägliche Kämpfe aufatmend überlassen, wie sich ein Ermüdeter dem Schlaf überlässt, sobald man ihn liegen lässt. Es zeigte sich aber jetzt, dass sie tiefer erschöpft war, als wir geglaubt und als sie selber gewusst hatte. Denn jetzt, wo Muoth sie bald wieder abholen sollte, verfiel sie in mutlose Angst, verlor den Schlaf und bat ihren Vater flehentlich, sie noch einige Zeit bei sich zu behalten.
Natürlich war Imthor etwas erschreckt, da er hatte glauben müssen, sie freue sich darauf, mit neuer Kraft und neuem Willen zu Muoth zurückzukehren; doch widersprach er nicht und legte ihr sogar vorsichtig den Gedanken an eine vorläufige längere Trennung als Einleitung zu einer späteren Scheidung nahe. Allein dagegen wehrte sie sich mit großer Erregung.
»Ich liebe ihn doch!« rief sie heftig, »und will ihm niemals untreu werden. Es ist nur so schwer, mit ihm zu leben! Ich will nur noch ein wenig Ruhe haben, ein paar Monate vielleicht, bis ich wieder besseren Mut habe.«
Der alte Imthor suchte sie zu beruhigen und hatte selber gar nichts dagegen, sein Kind noch eine Weile behalten zu dürfen. Er schrieb Muoth, Gertrud sei noch leidend, und wünsche noch einige Zeit zu Hause zu bleiben. Leider nahm dieser die Nachricht nicht leicht. In ihm war während der Trennungszeit die Sehnsucht nach seiner Frau überstark geworden, er hatte sich auf sie gefreut und war voller guter Vorsätze, sie wieder ganz zu gewinnen und zu eigen zu bekommen.