Gleichwohl begann die Ostrakowa allmählich, während Woche um Woche verging, sich in ihrem Winterquartier wohlzufühlen. Die große Kälte kam früh in diesem Jahr, und sie ließ sich behaglich einschneien; sie machte kurze Spaziergänge, dann sehr ausgedehnte, ging früh zu Bett und sprach wenig, und im gleichen Maß, wie ihr Körper sich erholte, genaß auch ihr Geist. Anfangs herrschte verzeihliche Wirrnis in ihrem Kopf, und sie ertappte sich dabei, daß sie in denselben Ausdrücken an ihre Tochter dachte, mit denen der rothaarige Mann sie beschrieben hatte: staatsfeindliche Ausreißerin und starrsinnige Rebellin. Dann dämmerte ihr langsam die Logik der ganzen Geschichte. Irgendwo, so argumentierte sie, gab es die echte Alexandra, die lebte und ihr Dasein führte, wie vordem. Oder, auch wie vordem, nicht lebte. In jedem Fall bezogen sich die Lügen des rothaarigen Mannes auf ein ganz anderes Mädchen, eines, das »sie« eigens für ihre Zwecke erfunden hatten. Die Ostrakowa brachte es sogar fertig, sich mit dem Gedanken zu trösten, daß ihre Tochter, wenn überhaupt, in völliger Unkenntnis dieser Machenschaften lebte.
Vielleicht bewirkten
die Wunden, die ihr an Geist und Körper zugefügt worden waren, was jahrelange
Gebete und Ängste nicht vermocht hatten, und befreiten sie von ihren
Schuldgefühlen gegenüber Alexandra. Sie trauerte aus tiefstem Herzen um
Glikman, sie war sich klar darüber, daß sie allein in der Welt stand, doch auf
dem winterlichen Land war ihr diese Einsamkeit nicht unlieb. Ein pensionierter
19
»Wissen Sie, daß er tatsächlich Ferguson heißt?« knautschte Saul Enderby in besonders breitem Belgravia-Cockney, der letzten Unsitte der englischen Oberklasse.
»Ich habe nie daran gezweifelt«, sagte Smiley.
»Er ist ungefähr alles, was von
diesem ganzen Pfadfinder-Stall übrig ist. Die Weisen sind heutzutage nicht für
Inlands-Aufklärung. Parteiwidrig oder sonst ein Käse.« Enderby konzentrierte
sich wieder auf das umfangreiche Dokument, das er in der Hand hielt. »Und wie
heißen
Smiley antwortete nicht.
»Ehrlich gesagt, möchte ich gern einen Feind haben«, bemerkte Enderby und blätterte ein paar Seiten um. »Bin schon seit Olims Zeiten auf der Suche. Oder, Sam?«
»Tag und Nacht, Chef«, pflichtete Sam Collins munter bei und bedachte seinen Meister mit einem vertraulichen Grinsen.
»Wäre sicher riesig hilfreich, Chef«, sage Collins.
Enderby rückte an seiner Halb-Brille, aber nur, um darüber hinwegzublicken, und Smiley war insgeheim überzeugt, daß sie ohnehin aus Fensterglas bestand.
»Kirow ist also der Sprecher. Nachdem Leipzig ihm die Daumenschrauben angesetzt hat, stimmt's, George?« Smiley nickte zerstreut. »Die beiden sitzen immer noch in Unterhosen in diesem Puff, aber es ist fünf Uhr morgens, und die Mädchen wurden heimgeschickt. Zunächst kommt Kirows tränenreiches Wie-konntest-du-mir-das-antun? >Ich hielt dich für meinen Freund, Otto!< sagt er. Herrgott, wie man sich doch täuschen kann! Dann folgt seine Aussage, von den Übersetzern in schlechtes Englisch gebracht. Sie haben eine Konkordanz angefertigt - ist dies das richtige Wort, George? Die >Ähs< und >Ehems< ausgelassen?«