»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Chveja. »Na ja, vielleicht auch nicht. Ich versuche im Augenblick gar nicht, es mir vorzustellen. Ich versuche mich nur daran zu erinnern, was ich der Überseele alles gesagt habe, welche Geheimnisse du kennst.«
»Ich werde dir ein Geheimnis verraten, das ich kenne, Veja. Ich weiß, daß von allen Leuten auf diesem Sternenschiff keiner ehrlicher und besser ist als du, liebevoller und sorgfältiger darauf bedacht, die Gefühle anderer Menschen nicht zu verletzen. Von allen Personen auf diesem Schiff gibt es niemanden, der so in Frieden mit sich selbst lebt, niemanden, der weniger zu der Last der Scham und Schuld beiträgt, die ich mit mir herumtrage. Von allen Leuten auf diesem Schiff bist du die einzige, Veja, der ich gern auf ewig nahe sein würde, weil alle deine Geheimnisse so strahlend und gut sind und ich dich deshalb liebe.«
»Einige meiner Geheimnisse sind
»Ganz im Gegenteil. Die bösen Geheimnisse, derer du dich so schämst, sind für
»Ich glaube«, sagte Chveja, »du redest gerade darum herum, daß du mich heiraten willst.«
»Als ob das jemals ein Geheimnis für dich sein könnte, wo du doch genau wie Tante Huschidh die Verbindung zwischen den einzelnen Menschen siehst. Da mußt gerade du von einem Eindringen in die Privatsphäre sprechen.«
»Ich kenne dein Geheimnis, Okja«, sagte sie lächelnd, drehte sich zu ihm um, legte die Arme um seine Taille und zog seine Hüften an die ihren. »Ich weiß, was du willst. Ich weiß, wie sehr du mich liebst. Ich sehe, daß wir von hellen Banden zusammengefügt werden, so eng, daß es kein Entkommen gibt, solange wir leben. Du bist mein Gefangener, und ich werde niemals Gnade zeigen und dich gehen lassen.«
»Diese Bande sind keine Fesseln, Veja«, sagte Ojkib. »Sie sind die Freiheit. Die ganze Reise über war ich in Gefangenschaft, weil ich dich nicht haben konnte. Wenn wir diese neue Welt betreten, diese alte Welt, und ich endlich offen mit dir verbunden bin, damit wir unser gemeinsames Leben beginnen können — dann wurde ich wirklich befreit.«
»Meine Antwort lautet ja«, sagte sie.
»Ich weiß«, sagte er. »Ich habe gehört, wie du es der Überseele gesagt hast.«
ZWEITER TEIL
Landung
9
Beobachter
Es gab viel für einen jungen Mann zu tun. Die Gemeinschaft trug ihm eine Menge Pflichten auf, selbst wenn er bereits verheiratet war, sogar mit einer so bemerkenswerten Frau wie Iguo. Da pTo außerordentlich gefördert wurde, erwartete das Volk ausgezeichnete Leistungen und eine Vorbildfunktion als junger Mann von ihm.
Na ja, vielleicht nicht das ganze Volk. Viele erwarteten von pTo bestenfalls eine Enttäuschung, schlimmstenfalls einen Skandal. Er war zu jung. Iguo hatte nur deshalb einen Knaben geheiratet, weil ihre Urgroßmutter Upua dasselbe mit Kiti getan hatte. Es war bei den Frauen dieser Linie irgendwie zu einer Familientradition geworden, Männer zu heiraten, die zu jung waren — und pTo war kein Kiti, wie viele sehr bald klarstellten.
»Weißt du, du bist kein Kiti«, sagte Poto, pTos eigenes Ander-Ich.
»Was dich betrifft, ganz bestimmt nicht«, sagte pTo.
»Du kannst nicht so verrückte Dinge tun. Sie werden dir gar nichts verzeihen. Wenn du ein hervorragender Mann bist, werden sie behaupten, du wärest arrogant. Wenn du zögerst, werden sie sagen, du hättest dich übernommen. Wenn du freundlich bist, werden sie sagen, du wärest herablassend. Wenn du zurückhaltend bist, werden sie sagen, du wärest arrogant.«
»Also kann ich doch gleich tun, was mir beliebt.«
»Bedenke nur, daß du auch meinen Namen durch den Dreck ziehst. Wenn
»Ein hilfloses Opfer meines Wahnsinns«, sagte pTo. »Ich will zum Turm gehen.«
Sie hockten auf dem kräftigen Ast eines Baumes und paßten auf eine Herde fetter Truthähne auf. Die Truthähne waren durchaus fügsam; denn sie waren zu dumm, um zu wissen, welches Schicksal das Volk ihnen zugedacht hatte. Die Gefahr ging von den Teufeln aus, die nichts lieber taten, als Tiere aus den Herden des Volkes zu rauben. Teufel waren faule Geschöpfe und arbeiteten niemals, wenn sie nicht gerade ihre häßlichen kleinen Löcher in den Boden gruben und die Herzen von Bäumen ausschnitzten. Während der Jahreszeit der Geburten traten sie in Scharen auf und stahlen manchmal bis zu einem Drittel der Neugeborenen eines jeden Jahrgangs; deshalb hatten auch so viele vom Volk ihr Ander-Ich verloren. Doch für den Rest des Jahres über waren sie hinter den Tierherden her.
»Wir haben Wache«, sagte Poto.
»Wir bewachen das Falsche«, beharrte pTo. »Die Alten im Turm sind die wichtigsten Geschöpfe auf der Welt.«
»Boboi sagt, daß sie unsere Feinde sind.«