Während sie weiter die Pistole im Anschlag hielt, trat der kleine Mann langsam einen Schritt vor, bis sie im Guckloch nur noch sein Gesicht, verzerrt, wie ein Gesicht unter Wasser, sehen konnte; und sie sah zum erstenmal die Müdigkeit darin, die geröteten Augen hinter den Brillengläsern, die schweren Schatten darunter; und sie spürte das leidenschaftliche Interesse, das er an ihr hatte, und das nicht ihrem Tod galt, sondern ihrem Überleben; sie spürte, daß sie in ein teilnehmendes Gesicht blickte, aus dem das Mitgefühl nicht für immer verbannt war. Das Gesicht kam noch näher, und das Schnappen der Briefklappe genügte, daß sie um ein Haar die Waffe versehentlich abgefeuert hätte, und diese Tatsache erfüllte sie mit Entsetzen. Sie hatte bereits das Zucken in ihrer Hand gefühlt und es gerade noch im Augenblick der Ausführung gebremst; dann bückte sie sich, um den Umschlag aufzuheben. Es war ihr eigener Brief, an den General adressiert - der zweite, in dem stand »Jemand versucht, mich zu töten«, in Französisch geschrieben. Als letzten hinhaltenden Widerstand schützte sie den Verdacht vor, der Brief könne ein Trick sein, »sie« hätten ihn abgefangen oder gestohlen oder was Betrüger sonst anstellen mochten. Aber als sie den Brief sah, die Anfangsworte und den verzweifelten Ton wiedererkannte, wurde sie jeglichen Betrugs unendlich müde, müde auch allen Argwohns und müde der Versuche, Böses zu sehen, wo sie sich aus tiefstem Herzen Gutes zu sehen wünschte. Wieder hörte sie die Stimme des dicken Mannes, ein korrekt erlerntes, aber leicht angerostetes Französisch, und es erinnerte sie an halbvergessene Schulgedichte. Und wenn, was er sagte, Lüge war, so war es die gerissenste Lüge, die sie je im Leben gehört hatte.
»Der Magier ist tot, Madame«, sagte er, und sein Atem beschlug das Guckloch. »Ich komme aus London, um Ihnen an seiner Statt zu helfen.«
Noch Jahre danach und vermutlich
sein ganzes Leben lang schilderte Peter Guillam immer wieder, mit wechselnder
Offenheit, wie er an jenem Abend nach Hause gekommen war. Er wies jedesmal
besonders darauf hin, daß die Umstände außergewöhnlich gewesen waren. Er hatte
- erstens - schlechte Laune gehabt, schon den ganzen Tag. Zweitens - sein
Botschafter tadelte ihn bei der wöchentlichen Mitarbeiterbesprechung vor
versammelter Mannschaft wegen einer unziemlich leichtfertigen Bemerkung über
die britische Zahlungsbilanz. Er war - drittens - erst seit kurzem verheiratet
und seine sehr junge Frau erwartete ein Kind. Ihr Telefonanruf kam - viertens -
wenige Minuten, nachdem er ein langes und höchst langweiliges Fernschreiben des
Circus entschlüsselt hatte, worin er zum fünfzehntenmal erwähnt wurde, auf
französischem Boden keine - wiederhole,
Damals also rief Marie-Claire Guillam ihren Mann punkt sechs Uhr an, gerade, als Guillam seine Codebücher wegschloß. Guillam hatte zwei Telefonanschlüsse, einen, der theoretisch operativen Anrufen diente und direkt war. Der zweite ging über die Hausvermittlung. Marie-Claire rief über die direkte Leitung an, was, wie sie mit ihrem Mann übereingekommen war, äußersten Notfällen vorbehalten bleiben mußte. Seit einiger Zeit bedienten beide sich des Englischen, damit Marie-Claire es fließender sprechen lerne, jetzt aber sprach sie französisch, ihre Muttersprache.
»Peter«, begann sie.
Er hörte sofort die Erregung in ihrer Stimme.
»Maire-Claire? Was ist los?«
»Peter, hier ist ein Herr. Er möchte, daß du sofort kommst.«
»Wer?«
»Das kann ich nicht sagen. Es ist wichtig. Bitte komm sofort nach Hause«, wiederholte sie und legte auf.